Extremsport

Extremsport

Was treibt den Menschen in den Abgrund ?
 Von Henrik Brandt, Diplom-Psychologe

Sie springen aus Flugzeugen und Hubschraubern, von Türmen, Kränen und von Klippen. Sie durchqueren Täler und Cañons. Sie tauchen, schwimmen, paddeln und rudern. Sie besteigen Wände, Hochhäuser, Bäume, Berge und Massive. Sie laufen zum Nordpol, zum Südpol, von Marathon bis nach Athen - radeln um die ganze Welt.

 Manche machen es zum Hobby, zum Freizeitvergnügen - zum Sport und zur Passion. Manche fahren dafür in den Urlaub. Manche brauchen es für Ihren Erfolg. Wieder andere machen es sich zum Beruf. Und es gibt welche, die schreiben darüber Bücher und machen es zur Philosophie. Was fehlt all diesen Menschen? Warum suchen Sie den Thrill - das extreme Erlebnis?

Der Mensch ist als ein soziales Wesen in seinem Verhalten, Fühlen und Denken nie unabhängig von seiner Umwelt zu verstehen. Fragen wir uns nun: Was bringt das Extremerlebnis der Gemeinschaft?

 Eigentlich gar nichts. Es ist Eigenliebe - Narzissmus. Ein uraltes menschliches Phänomen greift um sich, bewegt und erregt die Gemüter. Selbstbezogen, abgewandt und fern der sozialen Realität versucht der Narzisst im Thrillerlebnis seine Sehnsucht nach grenzenloser Freiheit auszuleben. Der Alltag, das Gewöhnliche, das Mittelmaß reichen ihm nicht. Er strebt nach Höherem. Im Extremen, ja da hat er das Gefühl des Besonderen, da erhält er das Futter, welches seine gequälte Seele braucht.

Ist es eine Sucht?

Wir haben es hier nicht mit Geltungsstreben zu tun. Nicht des Publikums, nicht der hysterischen Inszenierung wegen, segelt, fliegt, springt, taucht er dahin. Es geht um innere Befriedigung. Es ist der reine Genuss, der hier - im Dienste des eigenen Selbst - gesucht wird.

Ist es also eine Sucht, eine psychische Abhängigkeit? Leiden die Betroffenen, wenn sie Ihren Thrill nicht bekommen? Oder besteht sogar eine körperliche Abhängigkeit?

 Einige typische Merkmale können auf eine Suchtproblematik hinweisen. Besteht bei den “Betroffenen“ erstens ein ständiger anhaltender Wunsch und Drang dem Thrillerlebnis nachzugehen, wird zweitens viel Zeit für Aktivitäten rund um das “Hobby“ verbracht und werden drittens wichtige soziale, berufliche oder andere Freizeitaktivitäten aufgegeben, dann kann sich eine Sucht entwickelt haben. Nicht eine orale Befriedigung - wie bei den klassischen substanzbezogenen Süchten - steht dabei im Vordergrund, sondern die Suche nach extremen Erfahrungen, die auf maximalen Lustgewinn ausgerichtet sind.

Immer Extremer - immer neue „Glückshormone“

Verschiedene Untersuchungen und Befragungen bestätigen daneben die Endorphintheorie. Beim Menschen wird während des Thrillerlebnisses eine hohe Menge an “Glückshormonen“ (körpereigenen Endorphinen) ausgeschüttet. So erklärt sich auf körperlicher Ebene die oft beschriebene euphorisierende Wirkung während und nach dem Thrill. Wiederholen sich diese Prozesse in regelmäßigem Abstand, dann kann sich der Körper daran gewöhnen und verlangt nach mehr “Glückshormonen“. Dann wäre im klassischen Sinne eine körperliche Abhängigkeit entstanden und erklärbar.

Aber sicherlich würde es zu weit gehen, alle Menschen, die Thrill-Erlebnisse suchen, als süchtig zu bezeichnen und sehe man in naher Zukunft Heerscharen von Thrill-Junkies die Entzugsstationen unserer Kliniken belagern. Man darf auch nicht vergessen, dass - bei aller Lust nach Sensation - doch bis jetzt nur ein kleiner Teil der Bevölkerung dem besagtem Thrill nachjagt. Süchtige Anteile gehören zur menschlichen Existenz, wie auch ein Leben ohne Krankheit utopisch wäre.

Warum ist „normal sein“ out?

Nicht über geeignete Therapien muss man sich Gedanken machen, sondern über vorbeugende (gesellschaftliche) Maßnahmen. Warum ist “normal sein“ heute so out? Wieso nimmt die Anzahl von Singles immer mehr zu. Welchen Stellenwert haben Kinder und Familie? Geht es uns zu gut? Sehen wir nur noch uns selbst? Welche Werte transportiert eine Gesellschaft in der Egozentrismus und Genusssucht stetig zunehmen?

Das Phänomen ist ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Wir leben in einer Medienwelt - Postmoderne, New age und everything goes. Das mediale Angebot bestimmt unseren Alltag. Werte werden zunehmend weniger von realen Persönlichkeiten als über die Massenmedien, Fernsehen, Social Media und Internet vermittelt. Welcher normale Mensch in einem funktionierendem Sozialsystem käme denn von selbst auf die Idee, sich an einem Gummiseil in die Tiefe zu stürzen oder sich mit 10 Fremden in einen kalten Container, auf einer einsamen Insel oder in einem Dschungelcamp einschließen zu lassen. Big Brother is watching you - einst eine Horrorvision! Oberflächlichkeit und Exibitionismus greifen um sich - im Dienste von Egomanie und Selbstsucht. Medien und virtuelle Welten schaffen Wirklichkeiten. Lässt sich der Thrill noch steigern? Was kommt als nächstes auf uns zu?

Spaß muss sein und die zunehmende Freizeitgesellschaft benötigt neue Lebensformen, das ist klar. Wo sind aber die Werte, für die es sich auch für zukünftige Generationen lohnt zu leben. Wie können wir es schaffen, die existentiellen und lebensnahen Fragen unserer Zeit wie Krieg und Frieden, Klimawandel und Werteverlust wieder so in den Vordergrund zu stellen, dass Energien von hochqualifizierten Menschen nicht einfach im Sensationseeking und Thrill narzisstisch verpuffen, sondern für sinnhafte, nützliche und generationsübergreifenden Projekte eingesetzt werden?